Theorie & Praxis: die Lehre der
funktionalen Äquivalenz

Die juristische Übersetzung ist bekanntermaßen eine schwierige Aufgabe. Sie erfordert vom juristischen Übersetzer nicht nur perfekte Sprachkenntnisse, sondern auch ein tiefes Verständnis der betreffenden Rechtssysteme. Die Lehre der funktionalen Äquivalenz kann bei der Übersetzung sehr hilfreich sein.

Es gibt einige Lehren und Ansätze für die juristische Übersetzung. Juristische Übersetzer können diese nutzen, um die Genauigkeit und Qualität ihrer Übersetzungen zu verbessern. Eine dieser Theorien ist die sogenannte „funktionale Äquivalenz“.

Die funktionale Äquivalenz in der juristischen Übersetzung ist ein Ansatz, bei dem Rechtsbegriffe in den beiden beteiligten Rechtsordnungen nach funktionalen Kriterien untersucht und verglichen werden, um eine adäquate Übersetzung zu finden.

Konkret wird ein bestimmter Rechtsbegriff daraufhin untersucht, ob (und inwieweit) sein Zweck, Anwendungsbereich und Rechtsfolgen in der Zielsprache mit denen des zu übersetzenden Begriffs in der Ausgangssprache übereinstimmen. Der Grad der Übereinstimmung bestimmt, ob der Begriff in der Zielsprache eine angemessene Übersetzung darstellt.

Das leitende Prinzip

Die funktionale Äquivalenz ist das leitende Prinzip für die Übersetzungen im World Law Dictionary, einem Projekt der schwedischen Firma TransLegal AB.

Je nach Ergebnis dieser Analyse ordnet das World Law Dictionary die englische Übersetzung eines Begriffs aus der jeweils anderen Rechtsordnung einer von drei Kategorien zu:

Vollständige Äquivalenz (Full-/near- equivalence) – Die zwei Begriffe haben den gleichen Zweck, Geltungsbereich und rechtliche Folgen.

Teiläquivalenz (partial equivalence) – Die beiden Begriffe haben den gleichen Zweck und entweder den gleichen Anwendungsbereich oder die gleichen Rechtsfolgen. Dies bedeutet, dass der englische Begriff als angemessene Übersetzung verwendet werden kann. Eine zusätzliche Erklärung zur Übersetzung könnte jedoch erforderlich bzw. empfehlenswert sein.

Und wenn es keine funktionale Äquivalenz gibt?

Da das Common Law eine ganz andere Geschichte, Entwicklung und Struktur hat als die Zivilrechtsordnungen, gibt es manchmal keinen äquivalenten Begriff in der Zielsprache.

Oft gibt es einen Begriff in einer Rechtsordnung, aber keine Entsprechung im englischsprachigen Rechtsraum. Oder es gibt einen ähnlichen Begriff, der ist jedoch nach dem Kriterium der funktionalen Äquivalenz nicht wirklich mit dem Begriff in der Ausgangssprache vergleichbar.

In solchen Fällen muss eine neue Formulierung oder ein neues Wort gefunden werden, das den Begriff in der Ausgangssprache am besten beschreibt: ein sogenannter Neologismus. Da es sich bei der Übersetzung um eine Neuschöpfung handelt, die die Rechtsordnung der Zielsprache nicht kennt, empfiehlt es sich wieder mal, der juristischen Übersetzung eine kurze Erläuterung hinzuzufügen.

Funktionale Äquivalenz in der Praxis

Ein paar Beispiele, um die funktionale Äquivalenz in der Praxis zu durchleuchten:

1) Angebotsannahme – acceptance / acceptance of an offer

Die genauen Modalitäten des Zustandekommens eines Vertrages durch Angebot und Annahme sind in den deutschsprachigen Rechtsordnungen unterschiedlich. Aus dem Blickwinkel der funktionalen Äquivalenz gesehen, ist deren Ähnlichkeit mit ihrem Pendant im englischen Recht jedoch groß genug, um die englische Übersetzung als „völlig gleichwertig“ anzusehen.

2) Mutterchutz – maternity leave

Beide Begriffe verfolgen zwar den gleichen Zweck. Die Sozialsysteme im angloamerikanischen Raum unterscheiden sich in ihrer Reichweite, Ausgestaltung und Wirkung jedoch so entscheidend von denen in Deutschland/Österreich, dass nur von einer Teiläquivalenz gesprochen werden kann.

3) Bundesrat – Federal Council

Dies ist eine der beiden Kammern des österreichischen Parlaments. In keinem englischsprachigen Land gibt es ein ähnliches Gremium, so dass eine Neuschöpfung verwendet werden muss, um den Namen ins Englische zu übersetzen.


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